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BALDIGA-
ENTSICHERTES HERZ

FILMKRITIK

Mehr Sichtbarkeit für die Gay- und Queer Community: zwischen Türmen aus Archivmaterial und neuer, filmischer Inszenierung bringt Markus Stein den Fotografen Jürgen Baldiga aus der Dunkelkammer in die Kinosäle der Berlinale 2024.

Wie schafft man es, aus Massen an Archivmaterial bestehend aus Fotos, Gedichten, Tagebüchern, Interviews mit Zeitzeug:innen und einer gegenwärtigen Kamera einen roten Faden herzustellen, der dem schwulen Künstler Jürgen Baldiga und seiner Lebensgeschichte gerecht wird? Der deutsche Regisseur Markus Stein nimmt sich dieser Herausforderung an und erweckt nicht nur den Fotografen Jürgen Baldiga wieder zum Leben, sondern auch ein sensibles Thema, welches in der Vergangenheit gerne tot geschwiegen wurde: Die Aids-Krise in den 80er Jahren, oder besser gesagt: Die spezifische Angst vor der Krankheit, Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung.Jürgen Baldiga ist in der Schwulenszene eine bekannte Persönlichkeit, denn genau das war seine Intuition: Künstler werden, Stigmatisierung, Vorurteile und Tabus zu brechen - ohne Scheu vor Radikalität und Sichtbarkeit. Das spiegeln auch seine Fotografien und Tagebuch-Einträge wieder: Eine Lebensrealität von schwulen Männern in einer Vergangenheit, in welcher der Begriff „queer“ noch nichtmal existierte.Baldiga entreißt sich seinen proletarischen Familienverhältnissen in Essen und zieht 1959 nach Berlin, um seine Sexualität auszuleben und sich als Fotograf selbst zu verwirklichen. Durch Tagebucheinträge, Fotografien, Interviews und neuinszenieren Sequenzen deren Set-Design aus Originalfotos hervorgeht und sich mit den Archivmaterialien homogenisiert, erfahren wir von Jürgens ekstatischem Leben in der pulsierenden Hauptstadt Berlin. Er möchte sein „Herz entsichern“, schreibt er in einem seiner vielen Tagebüchern in kaum lesbarer, nahezu malerischer Handschrift. Wir haben Teil an seinen Gedanken und Gefühlen, an seinem Liebesleben mit nicht gerade wenigen Liebhabern, Partynächten aber auch Momenten der Einsamkeit. Baldiga dokumentiert nahezu alles, es entsteht ein Abdruck seiner Entwicklung vom 20-jährigen Ausreißer der noch im Elternhaus lebend als Sexarbeiter sein Geld verdient hat, zur bedeutenden Persönlichkeit zu Lebzeiten. Als Teil der selbsternannten Tuntentruppe „Ladies-Neid“ setzte er sich später vor allem gegen die Stigmatisierung von den heutigen Drag-Queens und Trans-Menschen ein. Der damals verwendete Begriff „Tunte“ spiegelt dabei das verachtende Bild von Männern in Kleidern besonders gut wieder. Schwul sein existierte, aber Frau sein zu wollen bzw. sich zu „verkleiden“ wollte niemand sehen und verstehen.Doch es war nicht immer alles ekstatisch und leidenschaftlich. Baldiga und sein damaliger Freund infizieren sich mit HIV. Doch was das genau bedeutet, wusste damals keiner so wirklich. Von nun an beginnt ein eine fast manische Phase des Fotografierens. Durch die Tagebucheinträge nehmen wir Teil an Baldiges Gedanken, wie es ist seinem Schicksal ausgeliefert zu sein, ohne wirklich zu wissen was das eigentlich bedeutet. Auch die Zuschauer erleben durch den Film nahezu am eigenen Leib mit, welche Auswirkung eine HIV-Infektion auf Betroffene hatte in einer Zeit, in der so gut wie keine Aufklärung darüber stattfand. Safer Sex war bis dahin nur ein daher gesagtes Wort an dass sich eh keiner hielt. Vielmehr waren es die braunen Flecken auf der Haut, die Betroffene erkennbar machten. Doch Jürgen Baldiga ist mutig und bekennt sich als HIV-Positiver. Gemeinsam mit der „Ladies-Neid“ werden Events ins Leben gerufen, um über Aids aufzuklären und Spenden zu sammeln. Sein radikaler Aktivismus scheint eine höhere Sinnhaftigkeit bekommen zu haben, als ob es das Schicksal so wollte. Und irgendwie gab es dann doch noch ein Happy End. Durch Interviews an den passenden Stellen mit Freunden aber auch Liebhabern erfahren wir durch neu hinzukommende Puzzleteile was für ein Mensch Baldiga wirklich war. An einigen Stellen scheinen sich aber die Bilder zu wiederholen und die Interviewpassagen nicht immer ganz treffend, ganz nach dem Motto: Mehr ist mehr. Doch das funktioniert hier nur bedingt. Auch die neuinszenierten Sequenzen fügen sich zwar gut in das Originalmaterial ein, allerdings scheinen hier irgendwann die Bilder ausgegangen zu sein, da die Szenen sich zu wiederholen scheinen. Zum Ende driftet der Film in Richtung Hommage mit erzwungenen Happy End, als mit der letzten Reise nah New York ein Lebenstraum verwirklicht wird.
Die Aufarbeitung der Archivmaterialien, die überwiegend aus Fotografie und Text bestanden ist eine Herausforderung, die Markus Stein gemeistert hat. Der Film präsentiert die Fotografien mit einem spielerischen, Achterbahn fahrenden Rhythmus. Und genau so stellte man sich das Leben von Baldiga letztendlich auch vor. Hier stellt sich vor allem die Frage, ob der Film Baldiga selbst gefallen würde und ihm gerecht werden kann. Nichtsdestotrotz gelingt es, radikal und gleichzeitig sanftmütig den Kampf um Aids und dessen Auswirkungen auf das soziale Umfeld auf eine tragische, wütende aber trotzdem liebevolle Art und Weise darzustellen und somit Baldiga als einen Zeitzeugen in das kulturelle Gedächtnis zu verankern.

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